ZU GAST Dieter Baumann, Ex-Langstrecken- läufer und Spitzensportler, erzählt von sportlichen und menschlichen Siegen und Niederlagen DIE FRAGEN STELLTE Sabine von Varendorff magazin: Seit „mensch“ gehen kann, hat er seine Beine benutzt, um sich fortzubewegen, zu jagen und bei Gefahr zu flüchten. Sich einfach nur aus Spaß zu bewegen, war für unsere Vorfahren un- denkbar. Und doch, die Olympischen Spiele, die schon 776 vor Christus ausgetragen wurden, heißen „Spiele“, für die sich Leistungssportler heute unter Aufbietung sportlicher Höchstkräfte qualifizieren müssen. Herr Baumann, Sie selbst wurden 1992 in Barcelona über die 5.000-Meter-Strecke Olympia- Sieger. Wie schätzen Sie mit Ihrer Erfahrung als Leistungssportler die Grenze zwischen Spaß am Spiel und Erfolg durch Wettkampf ein? Dieter Baumann (DB): Als ich während meiner Sport- ler-Karriere in Afrika war, um mit meiner Konkurrenz gemeinsam zu trainieren, gab es abends am Lagerfeuer eine hübsche Geschichte. In Afrika, so meine Läuferkol- legen, wird man als Läufer immer sehr kritisch beäugt, denn die landläufige Meinung ist, wer auf der Straße ohne Grund läuft, ist meist ein Dieb, der davonläuft. Dieselbe Geschichte gibt es übrigens von der Schwä- bischen Alb. Als ich als junger Kerl dort durch den Wald gelaufen bin – an einem Vormittag unter der Woche! – riefen mir die Bauern, die dort im Holz gearbeitet haben, zu: „Hosch nix Vernünftiges zom Schaffa“. Insofern haben wir uns – meine afrikanischen Kolle- gen und ich – einen guten Grund geschaffen, zu laufen: Den Wettkampf. Vor allem wenn dieser Wettkampf auf internationaler Ebene stattfindet. Das scheint für viele eine gute Legitimation zu sein, Sport zu treiben. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Sport, Spaß, Wettkampf, Erfolg, gehören für mich zusammen. Ich habe Spaß an Wettkämpfen und Spaß am sportlichen Erfolg, ohne die Niederlage, die es damit auch immer geben kann, in meinem Kalkül zu vergessen. Alles gehört zusammen, das ist der „Witz“ des Sports. SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 21/2022 7 Kaiser Karl V. war begeisterter Tennisspieler, Isaac Newton aktiver Boxer, im Florenz der Medici zog der Calcio, der Fußball, zigtausende Schaulustige an. Seit wann wird der menschliche Körper haupt- sächlich als Leistungsträger für einen messbaren und standardisierten sportlichen Erfolg gesehen und haben Sie eine Idee warum? Wie war dies bei Ihnen in Ihrer aktiven Sport-Zeit, was war Ihr Körper für Sie? DB: Ich glaube nicht, dass wir den Körper nur auf Sport reduzieren. Noch dazu auf Leistungssport. Gerade die große Läufergemeinschaft zeigt das Gegenteil. Men- schen laufen ja nicht, um Weltrekord zu laufen oder um besonders gut zu sein. Die allermeisten Menschen laufen, um sich etwas Gutes zu tun. Geist und Körper gewinnen mit dieser Bewegung. Dass dann noch ei- nige einen Marathon in Angriff nehmen, ist ja schon Wahnsinn, um eine tolle Zeit geht es den Menschen aber nicht. Vielmehr um ein besonderes Gruppenerlebnis. Die leisten sich den Luxus, etwas Besonderes in Angriff zu nehmen, das schwierig, aber machbar ist, und sie erleben das mit einer Vielzahl Gleichgesinnter. Wenn sie im Zielbereich eines großen Marathons stehen und in die Gesichter schauen, dann sind alle glücklich, egal ob die Läufer:innen am Ende drei oder sechs Stunden gelaufen sind. Sport ist aus meiner Sicht sehr viel mehr als die körperliche Anstrengung. Es ist ein „Einswerden“ mit allen Sinnen. So verstand ich das auch immer als Athlet. Nur wenn ich alle Sinne beisammen habe – nicht nur die nackte Muskelzelle, sondern meinen Geist mit dazu, mein Umfeld, mein Wohlgefühl, dann erst kam die gewünschte Leistungsfähigkeit. Alles muss passen, das ist der Reiz. Das körperliche Leistungsvermögen bis an die Grenzen und darüber hinaus auszutesten, wie kann das gelingen? Geht es da um das „eine“ große Ziel am Ende oder kann die Leistung nur Schritt für Schritt erbracht werden? DB: Es geht nur Schritt für Schritt. Eine Karriere dauert ja nicht nur ein Jahr. Jeder Weltmeister fängt klein an und entwickelt sich. Sehr selten gehen Athle ten über ihre Grenzen hinweg. Es ist vielmehr ein Grenzgang entlang seinen Fähigkeiten, um mit einem solchen Grenzgang sich weiter zu entwickeln. Es findet also keine Grenzüberschreitung statt, sondern vielmehr eine Grenzverschiebung. Aber nochmals, das alles ist ein langjähriger Prozess. Sehr spannend.