34 „Meine eigenen Räume sind mir vertraut. In meiner Wohnung bewege ich mich einigermaßen sicher. Aller- dings, wenn ich mich nach außen orientiere, dann geht nichts ohne Hilfe.“ Ich weiß nicht, was zwei Meter entfernt von mir ist.“ Alles, wirklich alles ist nur mit Hilfe zu erfassen. „Ich kann mich erinnern, wie Herbst ist. Aber ich muss jemanden fragen, ob es noch hell ist, wenn ich wissen will, ob und wann die Sonne jetzt früher untergeht.“ Das Umfeld erschließt sich über ge- speicherte innere Bilder. Leben muss Susanne Krahe allerdings in der Gegenwart. „Es macht etwas mit einem Menschen, wenn er ständig um Hilfe bitten muss“, sagt sie. Es wäre ihr lieber, wenn sie mit ihrer Behinderung angenommen werden würde. Und nicht wegen oder trotz der Beeinträchtigung. Also wenn das Umfeld von alleine darauf käme, dass sie beispielsweise abgeholt werden muss, wenn sie bei einer Familienfeier dabei sein soll und will. „Es gibt Menschen, die vergessen einfach, dass ich blind bin. In ihrem Bemühen, mich zu akzeptieren, behandeln sie mich, als ob nichts wäre. Ist es aber. Ich bin blind.“ Die Situation könne verglichen werden mit einem Kind, das stolpert und ein blutendes Knie hat. Es bekommt eher ein schlechtes Gewissen, als dass es Trost erfährt, wenn ihm gesagt wird, alles sei halb so schlimm, sei ja nichts passiert. Um klar zu sehen, genügt manchmal ein Wechsel der Blickrichtung Antoine de Saint Exupéry Wer nicht sehen kann, dem bleiben seine anderen Sinne. Viele vermuten, dass diese dann stärker ausgeprägt sind. „Es lässt sich trainieren, dass das Gehör oder der Tastsinn besser funktionieren“, sagt Krahe und erzählt, dass sie gelernt habe, Geräusche stärker zu fokussieren, Lärmkulissen zu filtern und sich ein wenig Orientierung mittels Hören zu verschaffen. Am wichtigsten aber sei ihr der Tastsinn geworden. Deshalb habe sie die Kon- taktarmut und Isolation in Corona-Zeiten besonders hart getroffen. Es sei schon in vertrauten Zeiten nicht einfach gewesen, mit Menschen in Kontakt zu kommen. „Menschen verabreden sich im Kino, zum gemeinsamen Spieleabend oder zum gemeinsamen Kochen … das geht zwar auch mit mir, aber meine Gesellschafter müssen sich auf mich einstellen. Da schwankt der Umgang mit mir dann zwischen völliger Hilfsbereitschaft, die mir keinen Raum zum Atmen lässt und dem Übersehen all der Dinge, die ich nicht kann, im Bemühen, mich so normal wie irgend möglich zu behandeln.“ Ihrer- seits begegne sie den Menschen möglichst offen und neugierig. „Ich gehe offensiv mit meiner Behinderung um. Ich mache Mut, mir zu begegnen und erkläre im- mer, dass niemand Angst davor haben muss, mit mir etwas falsch zu machen oder mir auf die Füße zu treten. Trotzdem spüre ich häufig eine starke Unsicherheit und ein schweigendes Zurückziehen. Das tut mir gar nicht gut.“ Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren André Gide Der Wunsch ist da, dass das Miteinander leichter funk- tioniert. Nur gelingen will die Inklusion nicht recht, so hat es die Autorin im Gefühl. „Es gibt ein Grundbild, dass Menschen mit Behinderung die Schwachen sind und die Menschen mit der Nicht-Behinderung die Starken, die helfen müssen. Dabei ist es doch so: wir sind alle gleich. Nämlich alle gleich verletzlich. Wir sind darauf ange- wiesen, dass wir gnädig und großherzig, ja großzügig miteinander umgehen. Egal wie stark ich selbst bin, ob mit oder ohne Behinderung, wenn ich anderen Men- schen nicht verzeihen kann, dann wird das Miteinander schwierig, denn Menschen, die sich begegnen, tun sich auch weh.“ Leiden und der Umgang mit Leiden sei nichts, was nur Menschen mit Behinderung betreffe. „Mit 30 vollständig blind geworden zu sein, ist mein Leiden, aber mein Leben ist Jetzt, und das möchte ich nicht trotz, sondern mit meiner Behinderung leben.“ ■ SVV Man muss Dinge auch so tief sehen, dass sie einfach werden Konrad Adenauer BUCHTIPP Susanne Krahe Der Geschmack von Blau Was ich weiß, seit ich nichts mehr sehe Gebundene Ausgabe, 264 Seiten, 2011 Neukirchener Verlagsgesellschaft ISBN: 978-3761558591 “Kann so ein Leben anders als schrecklich sein? Ich selbst konnte es mir sehenden Auges nie anders vorstellen als jenes schwarz geklei- dete Schreckgespenst. Es ist anders. Aber wenn ich heute sage, dass mein erstes Leben nur eine Vorbereitung und erst das zweite erfüllt war, schütteln die Leute den Kopf.“